
Seltsam durch die Straßen zu fahren, durch die man als Kind gegangen oder sogar ausgelassen gerannt war und die die Welt für einen bedeutet hatten. Jetzt war hier alles leer. Sie konnte sich vorstellen, dass hier normalerweise mehr los war, aber seit Corona schienen auch die Bewohner dieser kleinen Stadt den Empfehlungen zu folgen und eher zu Hause zu bleiben.
Jetzt fuhren sie langsam an ihrer alten Grundschule vorbei. Sie sah gar nicht so anders aus, als sie ihr in Erinnerung geblieben war. Nur die Verkehrsberuhigung hatte es damals sicherlich noch nicht gegeben. Sie erinnerte sich schwammig an die Schulhofspiele, die sie dort in den Pausen immer gemacht hatten und daran, dass sie unauffällig durch ihre Schulzeit gerutscht war. Nie war sie besonders gut, nie besonders schlecht, nie besonders beliebt, sondern eher schüchtern und leise gewesen. Das hatte andererseits auch den Vorteil, dass sie unbemerkt genug geblieben war, um nicht das Ziel der allseits gefürchteten Klassenkeile zu werden, die immer die gleichen erwischte. Nämlich die Schüler, die irgendwie anders waren. Die keinen Sitzplatznachbarn in der Bank neben sich hatten, die in den Pausen eher allein blieben oder oft den Unterricht störten, so dass sie in der Nachbarklasse in der Ecke stehen mussten.
Lieber erinnerte sie sich daran, wie sie mit ihrer Freundin endlos auf dem Nachhauseweg trödeln konnte und sie es nicht müde wurden, sich irgendwelche Geschichten zu erzählen. Irgendwann hatte diese Freundschaft im zweiten oder vielleicht auch dritten Schuljahr abrupt geendet, weil ihrer Freundin verboten wurde, mit ihr zu spielen. Sie erinnerte sich an die Enttäuschung, die sie damals empfunden hatte und wie es sie geschmerzt hatte, dass ihre beste Freundin sie plötzlich ignorierte und eingehakt mit einer neuen besten Freundin über den Schulhof stolzierte. Schwammig erinnerte sie sich daran, dass sie über Umwege irgendwann herausgefunden hatte, warum es zu diesem Spielverbot gekommen war. Es waren Gründe, für die sie nichts konnten, weil sie aus der Erwachsenenwelt stammten und eigentlich auch dort hätten bereinigt werden müssen. Gründe, die selbst nach mehr als 40 Jahren noch einen schalen Nachgeschmack bei ihr hinterließen und dafür sorgten, dass sie bei der Weiterfahrt durch den Ort, in dem sie groß geworden war, nicht mehr nur die Nostalgie einer unbeschwerten Kindheit begleitete, sondern auch die Traurigkeit, Einsamkeit und Hilflosigkeit eines Kindes, das nicht gelernt hatte, dass es wertvoll war und es Dinge gab, für die es sich zu kämpfen lohnte.
Bei den abc.etüden geht es darum, 3 Wörter in einer Geschichte unterzubringen, die maximal 300 Wörter umfasst. Dieses Mal: Klassenkeile, schwammig, trödeln.
Auch so traurig und so real geschildert!
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Danke
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Klingt sehr vertraut. Von dem einen auf den anderen Tag aus der Freundesliste aussortiert zu werden, und zu begreifen, dass man nichts dafür/dagegen (machen) kann, hinterlässt auch Spuren. Na ja, Gewalt ist Gewalt. 🤔
Danke dir. 😉
Morgenkaffeegrüße 😁🌥️☕🥐👍
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Warum ihrer Freundin der Umgang verboten wurde bleibt ein Geheimnis, oder? Aber sehr gut geschildert, danke dir.
VG, René
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Schön, wenn der Text neugierig gemacht hat. Welcher Grund würde denn ein solches Vorgehen rechtfertigen?
LG Yvonne
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… dass es wertvoll war und es Dinge gab, für die es sich zu kämpfen lohnte.
Aber wer hätte sie es lehren können, wenn selbst die Eltern sich weggeduckt und keine Beschwerde eingelegt haben, nur um sicher zu gehen, dass sich eine Meldung nicht negativ auf die Zensuren des Sprösslings auswirken würde?
Das System Schule war und ist als „Lehranstalt“ gedacht, nicht als Hilfe, den jungen Menschen ins Leben zu helfen.
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Ja, sehr schade. In manchen Punkten haben die Zeiten sich nicht geändert.
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