Nach meinem Bummel durch die Verlagsvorschauen bestärkt sich mein Gefühl: Ich muss dringend wieder mehr lesen. Ich möchte dringend wieder mehr lesen. Es gibt so viele wundervolle und manchmal auch wundersame Geschichten, die noch entdeckt werden wollen…
Mein Interesse wecken konnte in diesem Monat eine erfolgreiche YouTuberin, deren Tochter verschwindet; zwei Menschen, die per Anhalter zwei Jahre durch Indien reisen; Kurt Krömers Umgang mit der Depression; einen schweigsamen Einzelgänger der unter anderem nach Zypern mit seinem Faltboot paddelt; die Klinik für die Vergangenheit, die Alzheimer-Kranken eine inspirierende Behandlung anbietet; eine 15jährige, die ihren Selbstmordversuch bei TikTok ankündigt; Barbara Vorsamers Umgang mit der Depression; eine Mutter von drei Kindern, die beim Abendessen aufsteht, zum Balkon geht und sich ohne ein Wort in den Tod stürzt; eine ebenso lebendige wie persönliche Walfahrt einmal rund um die Welt und die Geschichte einer Ratte, die die Welt der Bücher für sich entdeckt.
Aber schaut selbst, vielleicht ist ja auch etwas für euch dabei:
07.03.2022: Die Kinder sind Könige von Delphine de Vigan: Mélanie war als junges Mädchen ein großer Fan von Formaten wie ›Big Brother‹. Sie hatte stets davon geträumt, gesehen und berühmt zu werden. Jahre später, als Mutter zweier Kinder, ist es ihr gelungen: Sie ist eine erfolgreiche YouTuberin mit Tausenden von Followern. Objekt ihrer Videos und Posts sind ihre Kinder, die auf Schritt und Tritt gefilmt werden. Seit Kurzem kommt ihre kleine Tochter dem Filmen jedoch immer unwilliger nach. Mélanie tut das als eine Laune ab. Denn wie könnte man die unendliche Liebe, die ihnen aus dem Netz entgegenkommt, als Last empfinden? Kurz darauf verschwindet Kimmy nach einem Versteckspiel spurlos. Wie, fragt sich die ermittelnde Polizeibeamtin Clara, soll man einen Verdächtigen ausmachen bei einem Kind, das Tausende Menschen kennen und mehrfach täglich sehen? Schnell begreift sie, dass ihre Methoden der Ermittlung in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind.
10.03.2022: Götter, Gurus und Gewürze: Zwei Jahre per Anhalter durch Indien von Morten Hübbe und Rochssare Neromand-Soma: 24 Monate, 21.206 Kilometer, 269 Mitfahrgelegenheiten – fasziniert lassen sich Rochssare und Morten auf das Abenteuer Indien ein. Sie besuchen boomende Metropolen und abgelegene Dörfer im Himalaja, heilige Stätten und rauschende Feste. Per Anhalter reisen sie im engen Kontakt mit den Einheimischen. Und mit jeder Tasse Chai tauchen sie tiefer ein in die Kulturen, Legenden und Traditionen Indiens. Dabei erleben sie zahlreiche Gegensätze. Armut und Reichtum, Gastfreundschaft und Überlebenskampf, Aberglaube und Modernität reichen sich in Indien die Hand. Rochssare und Morten erzählen von skurrilen Begegnungen am Straßenrand; dem verwirrenden Chaos von Neu-Delhi, Mumbai und Kalkutta; den unterschiedlichen Lebenswelten von Hindus, Sikhs und Moslems. Zwischen jahrtausendealter Geschichte und verblüffender Gegenwart entfaltet sich eine fesselnde Reise durch ein überwältigendes Land.
10.03.2022: Du darfst nicht alles glauben, was du denkst: Meine Depression von Kurt Krömer: Alexander Bojcan ist 47 Jahre alt, trockener Alkoholiker, alleinerziehender Vater und er war jahrelang depressiv. Auf der Bühne und im Fernsehen spielt er Kurt Krömer. Er will sich nicht länger verstecken. »Du darfst nicht alles glauben, was Du denkst« ist der schonungslos offene und gleichzeitig lustige Lebensbericht eines Künstlers, von dem die Öffentlichkeit bisher nicht viel Privates wusste. Alexander Bojcan bricht ein Tabu und das tut er nicht um des Tabubrechens willen, sondern um Menschen zu helfen, die unter Depressionen leiden oder eine ähnliche jahrelange Ärzteodyssee hinter sich haben wie er selbst. Dieses Buch wirbt für einen offenen Umgang mit psychischen Krankheiten und ist gleichzeitig kein Leidensbericht, sondern eine komische und extrem liebenswerte Liebeserklärung an das Leben und die Kunst. Ein großes, ein großartiges Buch. »Und ab dafür«, würde Kurt Krömer sagen.
14.03.2022: Der Flussregenpfeifer von Tobias Friedrich: Ulm, im Mai 1932: Mit nicht viel mehr als etwas Proviant und dem kühnen Plan, nach Zypern zu paddeln, lässt Oskar Speck sein Faltboot zu Wasser. In sechs Monaten will er zurück sein. Aber alles kommt anders. Gepackt von sportlichem Ehrgeiz, begleitet von Jazzmusik und Mark Twains weisem Witz, gejagt von den Nationalsozialisten, die aus dem Faltbootfahrer einen deutschen Helden machen wollen, fährt der schweigsame Einzelgänger von Zypern aus immer weiter in die Welt. Ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Gili, die sich, wie er, den Widrigkeiten der Zeit entgegenstellen muss. Doch das Schicksal gibt Oskar eine letzte Chance. »Der Flussregenpfeifer«, Tobias Friedrichs literarisches Debüt, basiert auf der unglaublichen, aber wahren Geschichte des Hamburgers Oskar Speck, der über sieben Jahre lang mit seinem Faltboot 50.000 Kilometer zurücklegte. So erstaunlich wie dessen Reise ist auch dieser humorvolle, dramatisch wie rasant erzählte Roman um wahre Freundschaft und Freiheitsliebe, starke Frauen und den Zufall als Wegweiser des Lebens.
14.03.2022: Zeitzuflucht von Georgi Gospodinov: In Georgi Gospodinovs Roman trifft der Erzähler auf Gaustine, einen Flaneur, der durch die Zeit reist. Er liest alte Nachrichten, trägt Vintage-Kleider und erforscht die verschlungenen Pfade des 20. Jahrhunderts. In Zürich eröffnet Gaustine eine »Klinik für die Vergangenheit«, eine Einrichtung, die Alzheimer-Kranken eine inspirierende Behandlung anbietet: Jedes Stockwerk ist einem bestimmten Jahrzehnt nachempfunden. Patienten können dort Trost finden in ihren verblassenden Erinnerungen. Aber auf einmal interessieren sich auch immer mehr gesunde Menschen dafür, in die Klinik aufgenommen zu werden, in der Hoffnung, den Schrecken der Gegenwart zu entkommen. Schließlich kommt es zu einem Referendum der europäischen Staaten, die gemeinsam darüber entscheiden, in welches Jahr des 20. Jahrhunderts sie zurückkehren wollen… Ein glänzender, politischer Roman, durchzogen von dunklem Witz, der uns eine neue Art eröffnet, unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzudenken.
14.03.2022: Tick Tack von Julia von Lucadou: Bevor sie sich auf die U-Bahngleise legt, kündigt Mette, 15, in TikTok-Videos ihr Vorhaben an. Niemand reagiert – gerettet wird sie trotzdem. Der Selbstmordversuch verwirrt ihr privilegiertes Umfeld: Bislang hat sie professionell die Leistung des hochbegabten Kindes abgeliefert – Mettes Strategie, um unter dem Radar einer Welt zu bleiben, deren Verlogenheit sie frustriert. Dann lernt sie Jo kennen, zehn Jahre älter, brillant und voller Wut, ein Verbündeter. Als Anti-Influencer hat er sich ein Following aufgebaut und rekrutiert Mette für den Kampf gegen den Mainstream. Ein Spiel beginnt, dessen Regeln sie nicht durchschaut. Mit gleißender Klarheit und schneidendem Witz zeigt Julia von Lucadou einen Ausschnitt unserer Gegenwart, in der die digitale und reale Wirklichkeit sich komplett durchdringen.
16.03.2022: Mein schmerzhaft schönes Trotzdem: Leben mit der Depression von Barbara Vorsamer: Barbara Vorsamer weiß, wie es sich anfühlt, wenn morgens ein Elefant mitten auf ihrer Brust sitzt. Dann reicht ihre Kraft nicht einmal, um sich im Bett umzudrehen. Dann nimmt das Gefühl der Wertlosigkeit überhand und irgendwann bleibt als Ausweg nur noch die Einweisung in die geschlossene Psychiatrie. Es war ein schmerzhafter Prozess, es brauchte Therapien und Klinikaufenthalte, bis Barbara Vorsamer lernte, Gefühle nicht länger zu unterdrücken, sondern sie in ihrer Ambiguität zuzulassen. Intensiv, berührend schreibt Vorsamer über das Versinken in tiefdunkler Depression, über Schmerzen und Trauer. Es sind persönliche Fragen, die weit über das Private hinausweisen. Denn wir müssen auch als Gesellschaft mal darüber reden, wie es uns geht.
22.03.2022: Die Wut, die bleibt von Mareike Fallwickl: Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Die Familie ist im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit. Helenes beste Freundin Sarah, die Helene ihrer Familie wegen zugleich beneidet und bemitleidet hat, wird in den Strudel der Trauer und des Chaos gezogen. Lola, die älteste Tochter von Helene, sucht nach einer Möglichkeit, mit ihren Emotionen fertigzuwerden, und konzentriert sich auf das Gefühl, das am stärksten ist: Wut. Drei Frauen: Die eine entzieht sich dem, was das Leben einer Mutter zumutet. Die anderen beiden, die Tochter und die beste Freundin, müssen Wege finden, diese Lücke zu schließen. Ihre Schicksale verweben sich in diesem bewegenden und kämpferischen Roman darüber, was es heißt, in unserer Gesellschaft Frau zu sein.
31.03.2022: Walfahrt: Über den Wal, die Welt und das Staunen von Oliver Dirr: In seinem Buch unternimmt Oliver Dirr eine ebenso lebendige wie persönliche Walfahrt einmal rund um die Welt. Dabei geht es um mehr als die bloße Entwicklung vom Stubenhocker zum Walforscher – Walfahrt ist eine begeisterte und begeisternde Einladung, die menschliche Existenz mal ein bisschen aus dem Zentrum der Weltwahrnehmung zu rücken und sich stattdessen voller Staunen auf die kleinen und großen Wunder der Meere einzulassen.
31.03.2022: Firmin – Ein Rattenleben von Sam Savage: Boston in den 60er Jahren. Im schäbigen Keller der Buchhandlung am Scollay Square wird Rattenjunge Firmin geboren. Er ist der Kleinste im Wurf und kommt immer zu kurz. Als der Hunger eines Tages zu schlimm wird, knabbert er die in den Regalen lagernden Bücher an. Eines nach dem anderen wird gefressen, bis Firmin entdeckt, dass auf dem Papier etwas steht, was ihn sein Elend vergessen lässt: Ob Lolita oder Ford Madox Ford, ob Moby Dick oder Cervantes, die Welt der Menschen verspricht Abenteuer und Liebe, Krieg und Frieden, kurz: alles, was eine Ratte nicht hat. Voller Neugier sucht Firmin die Freundschaft zu Buchhändler Norman. Als dieser einen Giftanschlag auf ihn verübt, muss Firmin einsehen, dass er in den Augen der Menschen wohl doch nichts weiter ist als ein lästiges Tier. Wie so oft im Leben zeigt sich aber gerade in den dunkelsten Stunden ein Licht am Ende des Tunnels.