erLESENer Dezember 2019

Im Lesemonat Dezember durchlitt ich mit Stoner stoisch alles Erdenkliche, mauerte mich in Angola ein und nahm Doris Dörries Einladung zu Schreiben an.

Bücherwelten – bereichernd und beruhigend, wenn das richtige Buch in die Realität eingreift…

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Stoner von John Williams
Der Roman erzählt vom Leben William Stoners, der als Farmerssohn an der Universität das Studium der Agrarwirtschaft beginnt und dort seine Leidenschaft für Literatur entdeckt. Ein Buch, dessen atmosphärische Erzählkunst mich beeindrucken konnte und Lust darauf macht, mehr von John Williams zu lesen. Sehr empfehlenswert!

Eine allgemeine Theorie des Vergessens von José Eduardo Agualusa
Ein Roman der vom Wandel und von den Wunden Angolas erzählt, indem er eine fantastische und doch ganz und gar wahre Geschichte rund um die junge Ludovica webt, die sich für dreißig Jahre in ihrer Wohnung einmauert, nachdem sie am Vorabend der angolanischen Revolution einen Einbrecher in Notwehr erschossen hat.  Durchwachsen.

Leben, Schreiben, Atmen von Doris Dörrie
Eine Einladung zum autobiographischen Schreiben,  bei der die Autorin sympathisch aus ihrem Leben plaudert. Sehr inspirierend und unkompliziert!

Der Schlüssel – Junichiro Tanizaki

Junichiro Tanizaki wurde 1886 in Tokio geboren und war Autor zahlreicher Romane, Dramen und Essays. In den Jahren kurz vor seinem Tod (1965) galt er als ein Anwärter für den Literaturnobelpreis. Mit „Der Schlüssel“ verfasste er einen Klassiker des 20. Jahrhunderts, der 1956 nur knapp einem Veröffentlichungsverbot entging und in Japan eine Debatte über Pornografie auslöste.

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Unfähig, über ihre geheimsten Sehnsüchte und Fantasien zu sprechen, beginnen der 56-jährige Professor und seine 45-jährige Frau Ikuko unabhängig voneinander Tagebuch zu führen – ahnend und hoffend, dass der jeweils andere das Geschriebene lesen wird. Auf diese Weise offenbaren sie ihr Innerstes ungehemmt. Während er sich um seine Potenz sorgt und die sexuelle Unersättlichkeit seiner jüngeren Gattin beklagt, behauptet sie, dass sie ihrem Mann eine gute Ehefrau sein will, sie ihn körperlich jedoch abstoßend findet und seine „Perversionen“ nur erträgt, um ihre eheliche Pflicht zu erfüllen. Sie legen Geständnisse ab, provozieren, täuschen bewusst. Und tatsächlich kommen sich die beiden dadurch körperlich wieder näher – nur ganz anders, als sie es sich vorgestellt haben und das liegt wohl auch an Kimura, dem Mann, den der Professor eigentlich für seine Tochter ausgesucht hatte.

Dem Leser erschließt sich der Roman anhand der Tagebucheinträge der Eheleute. Der Schreibstil ist flüssig, die Sprache wirkt trotz angedeuteter pornografischer Inhalte nicht vulgär. Und doch kann ich nachvollziehen, dass dieses Buch zu der Zeit als es erschien, ein Skandalroman war. An der Sprache lag es nicht.

Geschichten von Beziehungen, in denen Menschen nicht miteinander sprechen und stattdessen Spielchen spielen, intrigant und heuchlerisch agieren empfinde ich als anstrengend und wenig unterhaltsam. Alkoholgenuss bis zur Bewusstlosigkeit und Sex in eben diesem Zustand finde ich hingegen abstoßend und nicht tolerierbar. Aber da die Protagonisten sich mittels der Tagebucheinträge gegenseitig auch offensichtlich belügen und zu manipulieren versuchen, wusste ich als Leserin manchmal nicht mehr genau, was ich den Charakteren glauben konnte und was nicht. Dementsprechend war meine Wahrnehmung für das, was ich im Gegensatz zu Grenzüberschreitungen vielleicht als zwischenmenschlich vereinbarte Spielart legitim fände, empfindlich gestört.

Die Idee mit den Tagebüchern fand ich interessant und das Ende überraschend, konnte aber insgesamt weder mit der Handlung noch mit den Personen etwas anfangen, weshalb ich dieses Buch nicht empfehlen kann.

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Junichiro Tanizaki
Der Schlüssel
Hardcover, 192 Seiten
ISBN: 978-3-0369-5748-7
22,00 EUR
Verlag: Kein & Aber
Erschienen:  07.10.2016

erLESENer Juni

Im Juni ließ ich mich durch Algorithmen manipulieren, meinte auf meinem niederrheinischen Balkon Meeresrauschen zu hören und salzige Seeluft auf meinen Lippen zu schmecken, lernte die Temperatur kennen, bei der Buchseiten zu brennen beginnen und reiste unter Beachtung strengster Regeln kreuz und quer durch Nordkorea.

Bücherwelten – so fern und manchmal doch so nah.

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Mensch 4.0 von Alexandra Borchardt 
Ob die neuen Technologien uns freier machen oder uns manipulieren, ablenken und benutzen und ob wir mehr mitbestimmen können oder ob wir zu nützlichen Idioten ökonomischer oder politischer Interessen werden ist die Thematik dieses Buches, das interessante Denkanstöße enthält.

Barbarentage von William Finnegan 
Finnegan ist wie besessen vom Surfen und diese Leidenschaft sprang beim Lesen sogar auf mich Nicht-Surfer über. Aber ellenlange Beschreibungen der von Ort zu Ort unterschiedlichen Wellen begannen mich zu langweilen, so dass ich das Buch nach zwei Dritteln abbrach.

highlight_des_monatsjpg Fahrenheit 451 von Ray Bradbury 
Die beängstigende Geschichte von einer Welt, in der das Bücherlesen mit Gefängnis und Tod bestraft wird, ist ein zeitloses Plädoyer für das freie Denken und unbedingt empfehlenwert!

Unterwegs in Nordkorea von Rüdiger Frank 
Bis zu diesem Buch wusste ich nicht, dass es überhaupt möglich ist als Normalsterblicher Nordkorea zu bereisen. Dieser Reiseführer hat viel Interessantes über Land und Gepflogenheiten zu berichten, selbst wenn man nicht vor hat nach Nordkorea zu reisen. Empfehlenswert!

Fahrenheit 451 – Ray Bradbury

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„Es war eine Lust, Feuer zu legen. Es war eine eigene Lust, zu sehen, wie etwas verzehrt wurde, wie es schwarz und zu etwas anderem wurde. Das gelbe Strahlrohr in der Hand, die Mündung dieser mächtigen Schlange, die ihr giftiges Kerosin in die Welt hinaus spie, fühlte er das Blut in seinen Schläfen pochen, und seine Hände waren die eines erstaunlichen Dirigenten, der eine Symphonie des Sengens und Brennens aufführte, um die kärglichen Reste der Kulturgeschichte vollends auszutilgen.“ (S. 13)

So lernt der Leser den Protagonisten Guy Montag in den ersten Sätzen des 1953 erschienen Romans „Fahrenheit 451“ kennen, der nach dem Hitzegrad benannt wurde, bei dem Bücherpapier Feuer fängt und verbrennt – ein Detail, von dem man als Bücherfreund lieber nichts wissen möchte.

Guy Montag ist mit Leib und Seele Feuerwehrmann, doch in dieser dystopischen Welt löscht die Feuerwehr keine Brände, sondern sie legt welche, nämlich vornehmlich solche, die Bücher, Bibliotheken und die Menschen verbrennen, die von Büchern nicht lassen können. Doch als er Clarice, das Mädchen aus dem Nachbarhaus kennen lernt, ist er von ihrer Andersartigkeit und ihrer Wahrnehmung der Welt beeindruckt. Allmählich setzt bei ihm ein Umdenken ein, das jenseits von riesigen TV-Wänden und Dauerbespaßung immer weitere Kreise zieht.

„Du musst begreifen, bei der Ausdehnung unserer Kulturwelt kann keinerlei Beunruhigung der Minderheiten geduldet werden. Sag selber, was ist unser aller Lebensziel? Die Menschen wollen doch glücklich sein, nicht? Hast du je etwas anderes gehört? Ich will glücklich sein, sagt ein jeder. Und ist er es nicht? Sorgen wir nicht ständig für Unterhaltung und Betrieb? Dazu sind wir doch da, nicht? Zum Vergnügen, für den Sinnenkitzel? Und du wirst zugeben, dass daran in unserer Kulturwelt kein Mangel herrscht.“ (S. 68)

Als er eines Tages den Auftrag erhält eine Bibliothek zu verbrennen, gelangt ihm schließlich ein Buch in die Hände, das er verbotenerweise mit nach Hause nimmt. Die Dinge nehmen ihren Lauf.

Ray Bradbury führt dem Leser mit „Fahrenheit 451“ die Bedeutung und die Macht von Büchern vor Augen, die diese auf die Menschen ausüben. Als lesebegeisterem Menschen kann es einem nur gefallen, wenn Guy Montag die Seiten wechselt und aus der tristen Abgestumpftheit seines bisherigen Lebens ausbricht. Da dies jedoch nicht ungefährlich ist, bangt man mit dem Protagonisten mit und ist doch ein ums andere Mal erstaunt über die Entwicklung des anfangs doch ein wenig dümmlich erscheinenden Mannes. Im Laufe der Geschichte entwickeln sich Gedankengänge und Fragestellungen, die sich auch auf unsere heutige Zeit übertragen lassen und zum weiteren Nachdenken anregen. Obwohl das Buch bereits 1953 erschienen ist, erweckt es nicht den Eindruck in irgendeiner Form veraltet zu sein. Es ist eher einer der beeindruckenden Romane, die einen mit ihrer besonderen Stimmung gefangen nehmen und nicht mehr loslassen.

Die beängstigende Geschichte von einer Welt, in der das Bücherlesen mit Gefängnis und Tod bestraft wird, ist ein zeitloses Plädoyer für das freie Denken und unbedingt empfehlenwert.



Ray Bradbury
Fahrenheit 451 [Werbung]
Aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger
Original: Fahrenheit 451, Ballantine Books, Inc., New York, 1953
Taschenbuch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-257-20862-7
€ (D) 11.00 / sFr 15.00* / € (A) 11.40 * unverb. Preisempfehlung 
Verlag: Diogenes
Erschienen:  01.06.2008

Der Report der Magd – Margaret Atwood

Erst im vergangenen Jahr wurde Margaret Atwood, die 1939 in Ottawa geboren wurde und heute in Toronto lebt, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Ihr Roman „Der Report der Magd“ wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation, heißt es und weil Dystopien auf mich eine eigenartige Anziehungskraft ausüben, wurde es für mich Zeit, endlich dieses Buch zu lesen.

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In nichtlinearer Erzählstruktur erschließt sich ganz allmählich das Leben der Magd Desfred, die den Leser in der Ich-Form an ihrem Denken und Fühlen teilhaben lässt. Alles ist streng reglementiert, man bespitzelt und denunziert sich gegenseitig und die Angst zur Unfrau erklärt und in die Kolonien zur Giftmüllbeseitigung abgeschoben zu werden ist ebenso allgegenwärtig, wie der Tod selbst.

„Neben dem Haupttor baumeln sechs neue Leichen, am Hals aufgeknüpft, die Hände vorn zusammengebunden, die Köpfe in weißen Säcken und seitwärts auf die Schultern gefallen. Früh am Morgen muss eine Errettung von Männern stattgefunden haben.“ (S. 48)

Die bedrückende Atmosphäre dieses Buches umfängt einen bereits auf den ersten Seiten.  Universitäten werden geschlossen, Lesen ist verboten, und überall wachen die „Augen“, die Polizisten dieses christlichen Gottesstaates. Durch Erinnerungen und Rückblicke der Magd Desfred fügt sich nach und nach in teils ausschmückender Form das Leben „Vorher“, das von gefühlvoller Lebendigkeit und Selbstverwirklichung geprägt war, wie wir es heute eigentlich als normal empfinden und dem „Jetzt“, das sich mit einer eher zurückhaltenden nüchternen Sprache zur Schilderung des grauen freudlosen Daseins begnügen muss, denn in Gilead, einem theokratischen Regime, das die amerikanische Demokratie nach der Ermordung des Präsidenten ersetzt hat, herrschen ausschließlich Männer. Frauen wurden sämtlicher Rechte beraubt, um die größtmögliche Ausbeutung der weiblichen Gebährfähigkeit zu gewährleisten. Dazu gehören die totale Entmündigung der Frauen und ihre Klassifizierung in Hausfrauen, Gebärmaschinen und Dienerinnen. Da die meisten Frauen durch Umweltverschmutzung unfruchtbar geworden sind, werden die wenigen gebärfähigen besonders geschult und an ausgewählte Paare als Magd, vermittelt, um diesen durch eine völlig absurde Form der natürlichen Befruchtung ein Kind zu gebären.

Da Margaret Atwood befürchtete, dass ihr Roman ‚zu paranoid‘ wirken könnte, sammelte sie Zeitungsnachrichten und Zeitschriftenbeiträge, die ihre Fiktion faktisch abstützten: Berichte etwa über eine fundamentalistische Katholiken-Sekte in New Jersey, die von Frauen als „Mägden“ spricht, und über die Massenwirkung amerikanischer TV-Prediger, Nachrichten allgemein über die erstarkte „religiöse Rechte“ in Amerika und Erinnerungen an frühere Studien über die puritanische Vergangenheit. (Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13522893.html)

Vielleicht kam mir die Thematik auch deshalb manchmal gar nicht so weit weg vor. Für mich als weibliche Leserin war dieser Roman, so berührend und skurril ich ihn fand, gleichzeitig sehr erschreckend. Es handelt sich bei diesem Buch zwar um Fiktion, aber es scheint so unfassbar einfach zu sein, Frauen schnell und effektiv sämtlicher Rechte zu berauben, um sie in die gewünschten Bahnen zu lenken. Das macht Desfreds Schmerz nachvollziehbar und miterlebbar und man möchte am liebsten sicherheitshalber sofort auf die Barrikaden gehen. Unbedingt lesen! – und natürlich immer Augen und Ohren offen halten 😉

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Margaret Atwood
Der Report der Magd
Übersetzerin: Helga Pfetsch
416 Seiten, Broschur
ISBN: 978-3-492-31116-8
€ 12,00 (D)
Verlag: Piper
Erschienen:  03.04.2017

umgeBUCHt Beiwerk: Neuzugänge im März

Schachnovelle – Stefan Zweig

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In der 1942 erschienen Schachnovelle von Stefan Zweig trifft ein als Schachspieler mäßig begabter Ich-Erzähler auf dem Passagierdampfer von New York nach Buenos Aires auf den Schachweltmeister Mirko Czentovic, den ein selbstgefälliger Millionär gegen Honorar zu einer Simultanpartie herausfordert. Der primitive und zugleich arrogante Czentovic beherrscht fast automatisch die kalte Logik des königlichen Spiels und agiert in gewohnt souveräner Weise. Mitten in der für die Herausforderer hoffnungslos verfahrenen Partie, greift plötzlich beratend der österreichische Emigrant Dr. B. ein.

Fragte ich mich anfangs noch, ob meine Grundkenntnisse des Schachspiels für diese Novelle ausreichen würden, so zerstreuten sich meine Bedenken recht schnell und das Buch zog mich regelrecht in seinen Bann. Die Charaktere und Situationen sind so bildhaft und intensiv geschildert, dass man sich inmitten des Geschehens befindet. Ist die Geschichte zunächst noch in unterhaltsamem Stil erzählt, gewinnt sie in dem Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und Dr. B. an Tiefe, aber auch an Tragik. Stefan Zweig macht die Gefühlswelten der Personen nachvollziehbar und miterlebbar – beispielsweise die abgrundtiefe Verzweiflung des Dr. B., wenn er sich an den Terror seiner Inhaftierung im Nationalsozialismus erinnert oder die mitreißende Leidenschaft , beziehungsweise der Besessenheit fürs Schachspiel.

Ich bin bemüht an dieser Stelle nicht zu viel zu verraten, weil ich es so sehr genossen habe, mich unvoreingenommen auf die in meiner Ausgabe knapp 93 Seiten umfassende eindrucksvolle Novelle einzulassen. Dieses Leseerlebnis sollte sich unbedingt gönnen, wer die Schachnovelle noch nicht kennt.



Stefan Zweig
Schachnovelle [Werbung]
Taschenbuch, 112 Seiten
ISBN: 978-3-596-21522-5
Preis € (D) 5,95€ (A) 6,20
Verlag: Fischer

erLESENer Dezember

Im Dezember lernte ich eine schöne neue Welt voller Bereicherung, Verarmung und Manipulation kennen, um mich später dem natürlichen fraulichen Reifungsprozess zuzuwenden, den es übrigens in der vorgenannten Welt sicher nicht gegeben hätte.

Bücherwelten – so nah und manchmal glücklicherweise doch so fern.

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Schöne neue Welt von Aldous Huxley
Ein hochaktueller Klassiker aus den 1930er Jahren, dem man sein Alter nicht anmerkt und der für mich ein echtes Lesehighlight ist.

Mit Power durch die Wechseljahre von Dr. med. Ulrike Güdel
Ein unterhaltsames und informatives Buch für Frauen, denen das, was sie bislang über die Wechseljahren gehört haben, Angst macht und die sich mit diesem Thema gern entspannter auseinander setzen möchten.

Schöne neue Welt – Aldous Huxley

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Schöne neue Welt (Englisch: Brave New World) ist ein 1932 erschienener dystopischer Roman von Aldous Huxley, der eine Gesellschaft in der Zukunft, im Jahre 2540 n. Chr. beschreibt, in der Stabilität, Frieden und Freiheit gewährleistet zu sein scheinen.

Mittels physischer Manipulationen der Embryonen und Föten sowie der anschließenden mentalen Indoktrinierung der Kleinkinder werden die Menschen gemäß den jeweiligen gesellschaftlichen Kasten geprägt, denen sie angehören sollen und die von Alpha-Plus (für Führungspositionen) bis zu Epsilon-Minus (für einfachste Tätigkeiten) reichen.

»Bis schließlich der Geist des Kindes aus lauter solchen Einflüsterungen besteht und die Summe der Einflüsterungen den Geist des Kindes bildet. Und nicht nur den des Kindes, auch den des Erwachsenen – zeit seines Lebens. Der urteilende, begehrende, abwägende Verstand – er ist aus diesen Einflüsterungen aufgebaut. Und alle diese Einflüsterungen sind unsere Einflüsterungen!« Der Direktor schrie fast in seinem Triumph. »Einflüsterungen des Staates!‹ (S.46)

Allen Kasten gemeinsam ist die Konditionierung auf eine permanente Befriedigung durch Konsum, Sex und die Droge Soma, die den Mitgliedern dieser Gesellschaft das Bedürfnis zum kritischen Denken und Hinterfragen ihrer Weltordnung nimmt. Die Regierung jener Welt bilden Kontrolleure, Alpha-Plus-Menschen, die von der Bevölkerung wie Idole verehrt werden.

»Heutzutage – sehen Sie, das ist wahrer Fortschritt! – arbeiten die alten Leute, erfreuen sich ihrer sexuellen Triebe, sind immer beschäftigt, das Vergnügen lässt ihnen keine Muße, keinen freien Augenblick, um sich hinzusetzen und nachzudenken. Und selbst wenn sich durch einen unglückseligen Zufall ein Loch in der ununterbrochenen Folge ihres Zeitvertreibs auftut, ist immer Soma zur Hand, das köstliche Soma! Ein halbes Gramm genügt für einen freien Nachmittag, ein Gramm fürs Wochenende…« (S. 70)

Das Werk gehört zu den einflussreichsten Romanen des 20. Jahrhunderts. Es inspirierte Autoren aller Generationen zu eigenen Zukunftsvisionen. Im Unterschied zu Orwells „1984“ besteht das Totalitäre bei Huxley nicht in der brutalen Unterdrückung eines Überwachungsstaates, sondern im genormten Wohlfühlglück einer hoch entwickelten Gesellschaft, in der Unruhe, Elend und Krankheit überwunden, in der aber auch individuelle Freiheit, Kunst und Solidarität auf der Strecke geblieben sind.

„Damals“, schrieb Huxley über seinen Roman, „verlegte ich diese Utopie sechshundert Jahre in die Zukunft. Heute scheint es durchaus möglich, dass uns dieser Schrecken binnen eines einzigen Jahrhunderts auf den Hals kommt.“

Und genau das machte auch für mich den Reiz dieses Buches aus. Man merkt dem Werk sein Alter nicht an, sondern staunt eher darüber, wie nah Huxley mit seinen Ideen unserer heutigen Welt gekommen zu sein scheint. So sehr ich auch über manches Schmunzeln musste und Freude an den Phantasien des Autors hatte, so sehr beschäftigte mich das Gelesene im nachhinein. Die Entwicklungen dieser Gesellschaft sind nachvollziehbar und scheinen begründet, doch beim Lesen begleiten einen immer auch die Schattenseiten, so dass dieses Buch ein ganz besonderes Leseerlebnis bietet, bei dem man selbst immer viel analysiert, über die Hintergründe und Auswirkungen nachdenkt, aber auch Übereinstimmungen und Entwicklungstendenzen in der Gegenwart sucht. Für mich ein echtes Lesehighlight und ich weiß nun auch endlich, was sich genau dahinter verbirgt, wenn jemand mit bedauern in der Stimme den Ausdruck „Schöne neue Welt“ verwendet.

Immer wenn ich das Buch zur Hand nahm, hatte ich zur Einstimmung den Refrain dieses Liedes im Kopf, das sich auf das Buch bezieht und das ich euch natürlich nicht vorenthalten möchte 😉

Und hier abschließend noch eine kleine Einflüsterung der Konsumgesellschaft, die in unserer Welt glücklicherweise je nach Bedarf auch gern überhört werden kann:

„Zurück zur Kultur. Tatsächlich zur Kultur! Man verbraucht nicht viel, wenn man stillsitzt und Bücher liest.“ (S. 65)

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Aldous Huxley
Schöne neue Welt
Übersetzt von Herberth E. Herlitschka
Taschenbuch, 266 Seiten
ISBN: 978-3-596-90345-0
€ 8,00 [D], € 8,30 [A]
Verlag: Fischer
Erschienen: 07.2011

Buch-Date: Meine Wahl

Nach der Auslosung für das Buch-Date hatte mir Patricia vom Blog „Fiktive Welten“ folgende Bücher zur Auswahl gestellt:

  • Die Pest von Albert Camus
  • Die Göttliche Komödie von Dante Alighieri
  • Der Raritätenladen von Charles Dickens

Nachdem ich in die Leseproben hineingeschnuppert hatte, entschied ich mich für:

51V95vUs0hL._SX307_BO1,204,203,200_Der Raritätenladen von Charles Dickens,
insel taschenbuch 4080, Broschur, 823 Seiten, ISBN: 978-3-458-35780-3

Die kleine Nelly lebt bei ihrem Großvater, der in London einen Raritätenladen besitzt. Um die schwierigen Finanzen aufzubessern und den Lebensunterhalt für die kleine Nelly zu sichern, leiht er sich heimlich Geld vom Wucherer Quilp – das er beim Spielen jedoch wieder verliert. Als er seine Schulden nicht begleichen kann, fliehen Nelly und ihr Großvater – und versuchen ohne Rücklagen und Sicherheiten, ihr Glück neu zu finden …

Ich habe die mit diesem Roman bisher verbrachte Leseszeit sehr genossen. Charles Dickens (1812 – 1870)  versteht es, mit seiner Sprache und seinen Beschreibungen atmosphärische Bilderwelten und gesellschaftliche Momentaufnahmen dieser längst vergangenen Zeit zu erschaffen, sodass ich mich beim Lesen dort hineinversetzt fühlte. Die Sprache ist gut verständlich und angenehm zu lesen. Der 1840/41 veröffentlichte Roman ist interessant geschrieben und ich möchte gerne wissen, wie es es den Protagonisten im weiteren Verlauf ihrer Reise ergeht.

Aber leider ist meine Terminplanung in diesem Monat ziemlich sorrydurcheinander geraten und zudem habe ich mich zeitlich verschätzt, weshalb ich diesen Roman nicht zum heutigen Buch-Date-Termin beenden konnte. Daher muss es hier zunächst bei dieser kurzen Einschätzung bleiben – eine Rezension wird zu einem späteren Zeitpunkt folgen.